Gaugin versetzt mit seinen Südsee-Schönheiten die Pariser Kultwelt in Erstaunen. Picasso bestückt zwei seiner «Demoiselles d’Avignon» mit Köpfen, die an afrikanische Masken erinnern. Strawinsky schreibt statt Handlungsballetts einen rituellen «Sacre du Printemps», Prokofiew eine «skythische Suite», Debussy träumt von der Originalität asiatischer Musik, in den Variétés setzt nur wenige Jahre später die Begeisterung für Josephine Baker ein, und der Dadaismus lag in der Luft: Wieder einmal brach zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Einfachheit in die Kunstwelt Europas ein. Diesmal ging es freilich nicht mehr wie einst bei der frühromantischen Entdeckung des «einfachen Volks» um das natürliche Schlichte, denn jetzt hiess das Stichwort nicht mehr «einfach», sondern «primitiv». Das Raue, das Ungeschliffene, das dem archaisch Exotischen anhaftete, wurde mit seiner verstörenden Wirkung als modernes Mittel gegen die überspannte Raffinesse der europäischen Kunst erkannt. In solchem Umfeld lässt sich auch Béla Bartóks Musik ansiedeln. Freilich nur in gewissen Aspekten und nur als sehr spezielle Variante der modernen Primitivität. Einerseits hatte auch er das Potenzial der Volkskunst – der osteuropäischen in seinem Fall – für einen Aufbruch in die Moderne der klassischen Kunstmusik erkannt. Die originäre Kraft einer anonymen, tief in den Zeiten traditionellen Brauchtums geerdeten Musiksprache hat auch seiner Musik eine Abkehr vom subjektivistischen Geniekult der Romantik ermöglicht. Andererseits aber unterscheidet sich sein Ansatz in einem wesentlichen Punkt von der übrigen primitiven Kunst: Während diese bei der eurozentristischen Vereinnahmung des vermeintlich Ungeschlachten übersah, dass beispielsweise afrikanische Kunst sehr wohl ihre elaborierten Stile, Schulen und Traditionen kennt, hat Bartók seine Recherchen in osteuropäischer Volksmusik mit wissenschaftlicher Systematik betrieben und diese als eigenständiges Kulturgut der Gegenwart zu überliefern gesucht.
In den «Ungarischen Skizzen», zusammen mit anderen kleineren Werken zwischen 1908 und 1911 in der Klavierfassung entstanden und 1931 instrumentiert, nutzt Bartók Erkenntnisse seiner Volksmusikforschung rhythmischer, harmonischer und melodischer Hinsicht in einer noch vergleichsweise konventionellen Stilumgebung. Die fünf kurzen, selten aufgeführten Sätze sind Stimmungsbilder und formen in ihrer charakteristischen Abfolge einen symmetrischen Zyklus: Der erste («Ein Abend auf dem Lande») und der letzte («Üröger Schweinehirtentanz») zitieren volksmusikalisches Material; der zweite («Bärentanz») lässt die spätere Idee des «Allegro barbaro» (Bartóks virtuose Version des «Primitiven») bereits vorausahnen, und der vierte («Etwas angeheitert») beginnt seinem Titel entsprechend etwas torkelnd zu tanzen. Der dritte Satz («Melodia») ist der innere Kern des Zyklus und setzt kunstvoll aus dem einstimmigen Beginn eine zusehends üppigere, klangfarbig blühende Musik frei.
©Michael Eidenbenz