Auf dem Zenith der Moderne – Joseph Haydns Sinfonie Nr. 96 («The Miracle)
Als Joseph Haydn 1792 zum ersten Mal aus England heimkehrte, war er ein reicher Mann. Seit dem Tod seines Fürsten Esterházy als freier, mit einer respektablen Rente versehener und hochberühmter Komponist wirkend, konnte er sich unter diversen Einladungen und Aufträgen die interessantesten aussuchen. Das Angebot aus London schien ihm nicht nur in finanzieller Hinsicht das meist versprechende. In England blühte damals bereits ein ausserordentlich vielfältiges Musikleben, das im Gegensatz zur feudalen Welt der Fürstenhöfe auf dem Festland von allen Bevölkerungsschichten mit reger Anteilnahme verfolgt wurde und in den Händen privater, einander auch konkurrenzierender Unternehmer lag. Einer von ihnen war Johann Peter Salomon, der Ende 1790 gemeinsam mit Haydn nach London reiste. Das erste Konzert der vereinbarten Tournee fand am 11. März des folgenden Jahrs in den Hanover Square Rooms statt, der zweite Programmteil begann mit der Sinfonie in D (Nr. 96). Publikum und Presse reagierten enthusiastisch: «Das Publikum war so hingerissen, dass auf einhelligen Wunsch der zweite Satz wiederholt werden musste. Auch der dritte wurde ein zweites Mal verlangt, doch die Bescheidenheit des Komponisten liess keine Wiederholung zu», schrieb die Zeitung Diary. Von jenem Ereignis, das der Sinfonie ihren Beinamen gab, meldeten die Tageszeitungen freilich nichts. Unmittelbar nach dem Konzert soll nämlich, dem ersten Haydn-Biographen Albert Christoph Dies zufolge, der Kristallüster des Saales zu Boden gestürzt sein, wobei – wie durch ein Wunder eben – niemand verletzt wurde, weil das Publikum bereits zum Podium gelaufen war, um Haydn aus der Nähe zu sehen (tatsächlich berichten Zeitungen von einem solchen Ereignis im Februar 1795, während Haydns zweiter England-Reise, als die Sinfonie Nr. 102 gespielt wurde – wie so oft blieb der anekdotische Irrtum bis heute bestehen).
An Wundersamem freilich bietet die Sinfonie ohnehin genug. Wie – mit einer Ausnahme – alle Londoner Sinfonien lässt Haydn die Musik aus einer langsamen Einleitung entstehen, ehe sich das Allegro mit seinem selbstsicheren Thema in überreicher Ideenfülle entfaltet. Der zweite Satz hebt verspielt und traulich an. Zu harmlos, wie sich alsbald herausstellt, indem ein heftiger Mittelteil plötzlich aufwühlende Mollbereiche aufreisst und darauf zurück zur Idylle des Anfangs führt, die kurz vor Schluss – noch nicht genug der Überraschungen! – verblüffend in eine auskomponierte kurze Kadenz für zwei Soloviolinen mündet – einer der charmantesten Satzschlüsse Haydns. Und nach dem breit angelegten Menuett explodiert auch das Finale noch einmal unverhofft in einem stürmischen, von Moll-Harmonik und komplexem Kontrapunkt durchsetzten Mittelteil. Genialische Einfälle mit zukunftsreichen Folgen hat in diesem Jahr 1791 Haydn umgesetzt, der sich nun nach dem Tod seines jungen Freundes Mozart plötzlich nicht mehr als dessen «Papa» (wie Mozart ihn genannt hatte), sondern unverhofft in der Rolle seines moderneren sinfonischen Nachfolgers wieder fand.
©Michael Eidenbenz