In Schuberts letztem vollendeten Orchesterwerk - seiner Symphonie Nr. 8 in C-Dur D 944 mit dem ihr in mehr als nur einer Hinsicht wahrhaft geböhrenden Beinamen «Große C-Dur-Symphonie» - gewinnt die Vision eines neuen Konzerttyps wohl erstmals musikalisch prägnante Gestalt. Es ist gewiss kein Zufall oder bloß den ungönstigen Bedingungen des damaligen Wiener Musiklebens zuzuschreiben, dass das später so wirkungsvolle Werk geraume Zeit auf seine Uraufföhrung warten musste. (Es wurde erst 1839 von Robert Schumann in Wien entdeckt und noch im selben Jahr, wenn auch stark gekörzt, unter Felix Mendelssohn-Bartholdys Leitung in Leipzig aufgeföhrt.) Problematisch war Schuberts Komposition zunächst nicht, weil sie dem musikalischen Verständnis unerhürte Schwierigkeiten geboten hätte oder weil sie alle bisherigen Symphonien außer Beethovens Neunter an Länge öbertraf, problematisch war, dass sie im Grunde eine neue Art der Darbietung, einen neuen Typus des Konzerts (nämlich das «große Symphoniekonzert») und damit ein neues Publikum, das von neuen Erwartungen und Haltungen geprägt war, voraussetzte. Das von der Partitur Vorausgesetzte war 1825 in Wien noch längst nicht Realität geworden. Auf welche Art, so künnte man fragen, vermag denn öberhaupt notierte Musik ideale Bedingungen för ihre Realisation anzudeuten 7 Nun, Schubert konzipierte, um beim Naheliegenden zu beginnen, in riesigen Dimensionen (man denke an Schumanns beröhmtes Wort von der «himmlischen Länge»). Der erste Satz hat öber 800 Takte (zum Vergleich: der erste von Beethovens Neunter «nur» an die 550), das Finale gar öber 1 500. In diesen Takten passiert freilich vergleichsweise wenig. Öber weite Partien ist die Musik durchrecht bedächtigen Harmoniewechsel gekennzeichnet, z. B. in der Schlussgruppe des ersten Satzes: 10 Takte Es-Dur, 4 as-moll, 4 Es-Dur, 4 as-moll, 4 H-Dur, 4 e-moll usw. Und in diesen 30 Takten erklingen wirklich nur diese vier verschiedenen Harmonien, es handelt sich um Akkordflächen von zuvor unbekannter Ausdehnung. Auch im Finale wird erst nach 14 Takten der C-Dur-Dreiklang verlassen, aber dieser kolossale Satz gibt ein weiteres auffälliges Konstruktionsprinzip zu erkennen: Die wirklich wahrgenommene Zählzeit (der «Puls») und der notierte Takt (2/4 in rasendem Allegro vivace) fallen hier zusammen. Da der Puls einen mäßig bewegten Vierertakt markiert, entsprechen 88 notierte 2/4-Takte des Seitensatzes in der Wahrnehmung bloß 22 4/2-Takten in relativ gemächlichem Tempo. Diese ungewühnliche Notierung mag auf den ersten Blick nicht sehr bedeutungsvoll erscheinen, doch Schubert erreichte damit zweierlei: Einmal erklingen so die Melodien (und es ist durchaus gerechtfertigt, hier von «Melodien» und nicht wie sonst bei Sonatensätzen bloß von «Themen» zu sprechen) in breitem, liedmäßigem Cantabile, ohne dass darum zweitens der Eindruck eines drängend voranstörmenden Allegros verlorenginge. Schuberts Musik artikuliert sich hier sozusagen gleichzeitig auf zwei Ebenen: dem gesanglichen Melos der Hauptstimme und der rasenden Beweglichkeit der Begleitstimmen. Der Vergleich mit manchen seiner Lieder mag naheliegen, doch in der Symphonie gelingt es Schubert, seinen Melodien durch diese Technik den öberwältigenden Charakter des Grandiosen, des gelassen Majestätischen zu verleihen, ohne sie plump oder schwerfällig erscheinen zu lassen. Der Eindruck des Grandiosen wird durch die ungewühnliche «leere» der Partitur noch verstärkt. Mit der Detailarbeit eines ausgefeilten kontrapunktischen Satzes mit obligaten Nebenstimmen und differenzierter motivischer Verflechtung hat sich Schubert hier nicht abgemöht, nur selten (am deutlichsten im zweiten Satz) erklingen zwei Melodiezöge gleichzeitig. Diese auffällig schlichte Stilisierung (Verzicht auf kontrapunktische und motivische Arbeit, langsame harmonische Entwicklung und eingängige Kantabilität der Melodien) muss allerdings - entgegen unseren Erwartungen - anfänglich dem Publikum ungewohnte Schwierigkeiten bereitet haben. Was uns heute wie allzu bereitwilliges Eingehen auf den Geschmack nicht sonderlich gebildeter Hürer erscheinen kann, mag seinerzeit fast wie ein Affront gewirkt haben. Der Konzertbesuch galt ja als eine Form der Unterhaltung. Der klassische symphonische Stil hatte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade deshalb entwickelt, weil die Komponisten vor der neuartigen Aufgabe standen, ein ungewohnt großes, ungewohnt ungebildetes und ungewohnt unterhaltungssöchtiges Publikum mit Kompositionen zu fesseln, die ohne Vorbereitung durch Konzertföhrer und dergleichen belehrende Hilfsmittel sofort Aufmerksamkeit und Gefallen erregen mussten. Die hochdramatische, abwechslungsreiche Schreibart der klassischen Symphonie mit ihrer Öberfölle kontrastierender Themen und jäher Modulationen war die öberzeugende musikalische Antwort auf diese schwierige Aufgabe. In Schuberts Symphonie aber, so schlicht sie auch immer sein mochte, gab es gerade zu wenig Unterhaltendes und öberraschendes. Schuberts Musik ist paradoxerweise einfach, weil sie eben nicht bloß unterhalten will, sondern als Kunstgegenstand in autonomer ästhetischer Andacht gewördigt werden müchte. Im biedermeierlichen Konzertbetrieb mochte sie ähnlich deplatziert wirken wie eine von Michelangelos Sibyllen aus der Sixtinischen Kapelle im börgerlichen Wohnzimmer. Schubert aber entwirft mit seiner Symphonie eine zuvor ungeahnte, gewaltige Architektur aus Tünen. Sie ist nicht wie bei Haydn eine ironisch-humane musikalische Charakterdarstellung, dient nicht wie bei Mozart der individuellen Vermittlung von musikalischer Empfindungssprache und technischem Raffinement oder wie bei Beethoven der Verköndigung moralischer Ideen. Sie schildert nicht, sie stellt nicht dar, sie ist reine musikalische Präsenz, klingender Raum, Klangobjekt, dessen Grüße die lauschende Hingabe eines ungeahnt großen Publikums selbstbewusst einfordert. Die Symphonie schafft um sich gleichsam eine imaginäre Kultstätte, den Konzertsaal des großen börgerlichen Symphoniekonzerts. Diese Sä le wird das Publikum nicht mehr aufsuchen, um wie zuvor in den weniger anspruchsvollen Konzertstätten des Biedermeier unterhalten zu werden, jetzt sucht man musikalische Erbauung und ästhetische Versenkung. Schuberts große C-Dur-Symphonie nimmt diese Entwicklung vorweg, im neuen Rahmen wird sie eines der Prunkstöcke des Repertoires sein. (Manfred Angerer)