Beethoven bewegte sich also durchaus im Strom seiner Epoche, als er zeitgleich mit der Fünften in den Jahren 1807/08 seine sechste Sinfonie vollendete. Und zweifellos war ihm dies bewusst. Dass etwa schon Justin Heinrich Knecht eine Sinfonie namens «Portrait musical de la nature» geschrieben hatte, war ihm bekannt. Und der trendigen Beliebtheit volksmusikalischer Einfachheit war er selber mit Arrangements schottischer und irischer Volkslieder (mit denen er gutes Geld verdiente) entgegen gekommen. Beethoven wusste also zweifellos um die modischen Erwartungen, die er mit seiner «Pastorale» bediente – und von denen er sich gleichzeitig distanzierte. Die vielzitierte Notiz «Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey», in eine Stimme der ersten Violinen geschrieben, war jedenfalls gewiss nicht als vorzeitiger Kommentar zum viel späteren Streit um die Programmmusik gedacht. Sie wies vielmehr die Musiker (und damit auch das Publikum) an, nicht an die gewohnten Natur-Abbildungen zu denken, sondern die Musik mit ihren Empfindungen als sinnhaft gefüllt zu verstehen. Also die Eindrücke von ländlichem Leben, wie sie die fünf Sätze evozieren, sich zu eigen zu machen, um darin den Sinn der strukturell anspruchsvollen Musik zu erkennen – genau so wie dies von der Zwillingssinfonie, der Fünften, verlangt wird, auch wenn dieser keine programmatischen Titel beigegeben sind. Natur und Kunst werden zusammen gesehen, die Sinfonie wird zum Sinnbild für die innere Kohärenz von Mensch und Natur –: Anders als die trivialromantische Naturverklärung geht es in der «Pastorale» also nicht um die Sehnsucht nach, sondern um die Freude an der Möglichkeit eines schlichten Lebens. Und diese «Freude» wiederum ist nicht Weltflucht, sondern Utopie mit Weltanspruch. Drei Sinfonien später wird Beethoven dies wörtlich zur Sprache bringen.
©Michael Eidenbenz