Symphonie Nr. 6 F-Dur, Op. 68

Pastorale
Ludwig van Beethoven
Dauer: 39'
1. Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande
2. Szene am Bach
3. Lustiges Zusammensein der Landleute
4. Geweitter, Sturm
5. Hirtengesang, frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm

Um die Wende zum 19. Jahrhundert entdeckten die Künste die Natur. Albrecht von Haller bedichtete die Alpen, die jungen Romantiker fanden im natürlichen Blühen und Vergehen Bilder für ihr Seelenleben, die Maler nutzten organisches Wuchern als neue formale Qualität. Gleichzeitig fand man in der unverdorbenen Natürlichkeit des einfachen Land- und Volkslebens einen realistischen Gegenentwurf zum Dasein in der kompliziert gewordenen urbanen Kultur. Aus der alten arkadischen Pastoral-Idylle, die noch eine stilisierte Schäfer-Typologie zur höfischen Ergötzung gepflegt hatte, war eine Welt geworden, die es mit «Empfindung» und eigener Sinnlichkeit zu erleben galt und die nun auch ihre Gefahren zeigen konnte. Namentlich das Gewitter hat dabei einen Weg zurückgelegt vom spielerischen orchestralen Grollen, wie wir es noch bei Vivaldi hören, über seine metaphorische Verwendbarkeit für den Ausdruck innerster Erschütterungen, wenn etwa Werther am offenen Fenster Lottes Hand berührt und – o Klopstock! – gleichzeitig an die grosse Gewitterhymne der modischen Literatur der Zeit erinnert, bis hin zu seiner dialektischen Funktion im sinfonischen Gefüge bei Beethoven: das Gewitter als tumultuöse Reinigung ist Voraussetzung für die heitere finale Dankbarkeit.

Beethoven bewegte sich also durchaus im Strom seiner Epoche, als er zeitgleich mit der Fünften in den Jahren 1807/08 seine sechste Sinfonie vollendete. Und zweifellos war ihm dies bewusst. Dass etwa schon Justin Heinrich Knecht eine Sinfonie namens «Portrait musical de la nature» geschrieben hatte, war ihm bekannt. Und der trendigen Beliebtheit volksmusikalischer Einfachheit war er selber mit Arrangements schottischer und irischer Volkslieder (mit denen er gutes Geld verdiente) entgegen gekommen. Beethoven wusste also zweifellos um die modischen Erwartungen, die er mit seiner «Pastorale» bediente – und von denen er sich gleichzeitig distanzierte. Die vielzitierte Notiz «Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey», in eine Stimme der ersten Violinen geschrieben, war jedenfalls gewiss nicht als vorzeitiger Kommentar zum viel späteren Streit um die Programmmusik gedacht. Sie wies vielmehr die Musiker (und damit auch das Publikum) an, nicht an die gewohnten Natur-Abbildungen zu denken, sondern die Musik mit ihren Empfindungen als sinnhaft gefüllt zu verstehen. Also die Eindrücke von ländlichem Leben, wie sie die fünf Sätze evozieren, sich zu eigen zu machen, um darin den Sinn der strukturell anspruchsvollen Musik zu erkennen – genau so wie dies von der Zwillingssinfonie, der Fünften, verlangt wird, auch wenn dieser keine programmatischen Titel beigegeben sind. Natur und Kunst werden zusammen gesehen, die Sinfonie wird zum Sinnbild für die innere Kohärenz von Mensch und Natur –: Anders als die trivialromantische Naturverklärung geht es in der «Pastorale» also nicht um die Sehnsucht nach, sondern um die Freude an der Möglichkeit eines schlichten Lebens. Und diese «Freude» wiederum ist nicht Weltflucht, sondern Utopie mit Weltanspruch. Drei Sinfonien später wird Beethoven dies wörtlich zur Sprache bringen.

©Michael Eidenbenz



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