Symphonie Nr. 4 E-Moll, Op. 98

Johannes Brahms
Dauer: 39'

«Die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren, hat in Brahms entschieden ihren würdigsten Vertreter gefunden. Ganz wie der liebe Gott versteht auch Herr Brahms sich auf das Kunststück, aus nichts etwas zu machen.» Hugo Wolfs Bemerkung war zynisch gemeint und findet sich in einem grundsätzlichen Verriss von Brahms’ letzter Sinfonie. Dennoch wurde sie zu einem der meist zitierten Kommentare, da sie aus ablehnender Sicht Richtiges festhält: Es ist tatsächlich nicht die Üppigkeit melodischer Einfälle, was das Aussergewöhnliche dieses Werks ausmacht, das zwar nicht gerade aus «nichts» gemacht ist, das sich aber – bei gründlicher Analyse – auf einige wenige motivische Kernelemente reduzieren lässt. Zu diesen gehört etwa das Terz-Intervall, das mit seiner Umkehrung als Sexte vom Hauptthema des Kopfsatzes an im ganzen Werk zentrale strukturelle Bedeutung erhält. Dazu gehört auch die Wechselwirkung zwischen C-Dur und E-Dur (bzw. e-Moll), die im ersten Satz bedeutsam wurde (Reprise!) und im zweiten Satz nun auch dem einleitenden Hornthema harmonische Ambivalenz verleiht. Dazu gehören satztechnische Raffinessen wie der doppelte Kontrapunkt (Austauschbarkeit von Ober- und Unterstimme) im Scherzo. Und schliesslich wird die gestaltende Kraft der Reduktion explizit, wenn Brahms dem Finalsatz die Form einer Passacaglia gibt, ihn also auf ein einziges, in 30 Variationen wiederkehrendes achttaktiges Thema aufbaut.

Der strukturelle Beziehungsreichtum und der ästhetische Rigorismus des Werks ist oft kommentiert worden. Ebenso Brahms’ historische Janusköpfigkeit, die sich daraus ergibt: Sein Beharren auf dem musikalisch Absoluten und sein fortwährender Rekurs auf Beethoven wirken Ende des 19. Jahrhunderts veraltet angesichts der modisch gewordenen Programmmusik der «neudeutschen» Schule um Wagner, Liszt und Strauss. Gleichzeitig hat aber ausgerechnet Arnold Schönberg später die Modernität Brahms’ betont und sein Prinzip der «entwickelnden Variation», der fortwährenden Umgestaltung von wenigen motivischen Kernelementen also, als wegweisend für sein eigenes Komponieren bezeichnet.

Die Faszination, die von den tatsächlich schier unerschöpflichen analytischen Details ausgeht, droht freilich die Sicht auf eine semantische – oder schlicht auch emotionale – Ebene zu verstellen, die der unvoreingenommenen Hörer ja als Erstes wahrnimmt und die auch Brahms selber keineswegs verleugnete: Eine «traurige Symphonie» hatte er dem Dirigenten Hans von Bülow 1885 zwei Monate vor der Uraufführung angekündigt. Und in der Tat ist Trauer eine anhaltende Grundstimmung durch das ganze Werk. Sie äussert sich im Kopfsatz in den seufzenden Gesten des ersten Hauptthemas, das trotz dem energischen Gegensatz des fanfarenartig auffahrenden zweiten Themas mit diesem zusammen mehrmals in elegische Auflösungszustände gerät. Und wer im zweiten Satz mit seinem phrygischen Wendungen, seinem dichten und auch leidenschaftlich auffahrenden Träumen die melancholische Erzählung einer alten Geschichte hört, liegt wohl ebenso wenig falsch wie wer darauf im temperamentvollen Allegro giocoso trotz Triangel-Klingeln und «Grazioso»-Passagen in dieser lauten Fröhlichkeit auch latentes Konfliktpotenzial vermutet. Das Finale schliesslich macht Pathos und tragischen Tonfall sogar zu seiner Basis. Wohlverstanden: nicht zur demonstrativen «Aussage», sondern zum Ausgangspunkt, auf dem sich in der für dieses Spätwerk so charakteristischen kompositorischen Ökonomie die Geschichten entfalten. Die Basis ist der Passacaglia-Bass, dessen Verwandtschaft mit J.S. Bachs Kantate 100 «Nach dir, Herr, verlanget mich» schon früh festgestellt worden ist. Und die Passacaglia ist für den gestaltenden wie für den erzählenden Brahms seit je eine bevorzugte Form: «Bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich, fast, beinahe nur der Bass etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue ... Variiere ich die Melodie, so kann ich nicht leicht mehr als geistreich oder anmutig sein oder, zwar stimmungsvoll, einen schönen Gedanken vertiefen. Über den gegebenen Bass erfinde ich wirklich neu, ich erfinde ihm neue Melodien, ich schaffe». Im Falle des Finales der Vierten Sinfonie ist daraus eine dreiteilige Form geworden: Zwei e-Moll-Teile (Variationen 1-11 und 16-30) umfassen einen ruhigeren Dur-Mittelteil (Variationen 12-15) und führen nicht zuletzt dank prominentem Einsatz der feierlich dunkel wirkenden Posaunen zu einem Ende in grossem Ernst, als einzige unter Brahms’ Sinfonien endet die Vierte in Moll. Dass e-Moll auch die Tonart von Joseph Haydns «Trauersinfonie» ist, mag ein weiterer Hinweis auf jenen Affekt sein, der Brahms’ Komponieren seit je grundierte: Keiner konnte beglückendere traurige Musik schreiben als er, und niemals ist auf dieser Basis eine geistreichere, kraftvollere und auch anspruchsvollere Sinfonie entstanden als in der Vierten. – «Eben aus der Probe zurück. No. 4 riesig, ganz eigenartig, ganz neu, eherne Individualität. Atmet beispiellose Energie von A bis Z», notierte der Dirigent der Uraufführung Hans von Bülow nach einer Probe. Genau so – «ganz eigenartig, ganz neu» – sollte das viel gespielte Werk auch heute noch gehört werden.

©Michael Eidenbenz

 



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