Am 8. August 1954, dem Tag, nachdem er die Partitur seiner Serenade vollendet hatte, notierte Leonard Bernstein: «Für diese Serenade gibt es kein literarisches Programm, trotz der Tatsache, dass sie nach dem Wiederlesen von Platons Symposium entstand. Die Musik besteht, wie die Dialoge, aus einer Reihe von miteinander zusammenhängenden Thesen, die die Liebe preisen, und sie folgt in der Form der Reihenfolge der Redner bei Platon.»
Tatsächlich lässt sich von Bernsteins Musik nicht auf einzelne Details von Platons Text im Sinne einer Simultanübersetzung von Literatur in Musik schliessen. Die «Übersetzung» erfolgt hier in umfassenderem Sinn als musikalische Ausformung des zentralen Themas, das bei jenem legendären Zusammentreffen von Athener Geistesgrössen im Jahr 416 v.Chr. beredet worden war. Denn dieses Thema ist gleichzeitig auch Bernsteins eigenes, nimmermüde verkündetes und hochgehaltenes Anliegen: die Liebe. Genauer: der Eros, also die körperliche Liebe mit all ihren Auswirkungen aufs seelische Empfinden. Nicht die spätere vergeistigte christliche Liebe priesen die antiken Autoren bei ihrem Trinkgelage (als welches jenes «Symposion» zu betrachten ist), sondern die Liebe mit all ihrem Sehnen und Begehren, die Liebe zur Schönheit im Allgemeinen, die Liebe zu schönen Knaben im Besonderen.
Da schwärmt zunächst Phaidros für das Liebesopfer, worauf Pausanias die Vor- und Nachteile erotischer Praktiken für den athenischen Staat ausmalt. Der Theatermann Aristophanes erzählt einen alten Mythos, wonach der Mensch ursprünglich zufrieden doppelgeschlechtlich als Doppelmann, Doppelweib oder Mannweib gelebt habe, für sein übermütiges Streben nach dem Olymp von Zeus aber bestraft und in Mann und Weib geteilt wurde, weshalb er nun unter der ewigen Sehnsucht nach dem geschlechtlich Anderen zu leiden hat (womit Aristophanes als einziger immerhin auch die Variante der Liebe zwischen Mann und Frau ins Spiel bringt). Der Arzt Eryximachos stellt die gesundheitlichen Vorteile der Erotik dar, und Agathon, der junge Tragödiendichter und Gastgeber der ganzen Veranstaltung, lobt in hymnischen Tönen und flammenden Versen den Segen des Eros für die schönen Künste. Als letzter ist Sokrates an der Reihe. Er gibt sich ironisch, sieht sich ausserstande, nach Agathons schönen Worten etwas Ebenbürtiges zu bieten und verwickelt stattdessen den Vorredner in einen Dialog, in dessen Verlauf er darlegt, dass der Eros, die Liebe zum Schönen, unmöglich selber schön sein könne. Denn man begehre ja nicht, was man schon besitze; das Hässliche hingegen könne man erst recht nicht begehren. Da nun «schön» («kalós») im Griechischen die Zweitbedeutung «gut» hat, wäre demnach der Eros auch nichts Gutes, was aber offensichtlich nicht zutrifft. Die Folge ist sokratische Dialektik: Wer den Eros als das Absolut-Schöne preist, ohne einen Begriff vom Absolut-Bösen zu haben, täuscht sich selber. Der Eros ist nämlich weder absolut schön noch absolut hässlich, er ist überhaupt nicht «absolut» und somit auch nicht göttlich, sondern ein Dämon, der zwischen Menschlichem und Göttlichem vermittelt – die Liebe also ist dämonisch. Als Sokrates geendet hat, wird das Gespräch plötzlich unterbrochen. Ein weiterer Saufzug dringt in Agathons Heim. An seiner Spitze steht der Politiker Alkibiades, der, seinerseits schon betrunken und ausserdem eifersüchtig auf die schönen Männer an Sokrates’ Seite, eine Lobrede auf diesen zu halten beginnt. Als schliesslich noch mehr Nachtschwärmer zu der Runde stossen, wird das Chaos total, der Erzähler verliert das Bewusstsein – das sokratische «Daimonion» erlebt seinen unbestreitbaren Triumph.
Auch wenn Bernstein nun nicht Programmmusik im engeren Sinn schreibt, so sind doch einige formale und emotionale Bezüge zur Vorlage offensichtlich:
I. Lento – Allegro: Phaidros’ Schwärmen erklingt in einem langsamen, von der Solovioline angestimmten Fugato; ein klassischer Allegro-Sonatensatz mit zwei Themen entspricht darauf Pausanias’ Erläuterungen zur Dualität der Liebe.
II. Allegretto: Aristophanes’ Erzählung wird in der Art einer Romanze von der Solovioline zu märchenhaft verträumter Orchesterbegleitung gesponnen.
III. Presto: Die naturwissenschaftlichen Erwägungen des Arztes Eryximachos schlagen sich in einem rätselhaften und humoristischen Scherzo-Fugato nieder.
IV. Adagio: Agathons Hymnus wird zum formal schlichten dreiteiligen Lied, aus dessen eindringlicher Innigkeit aber das ganze Engagement spricht, das Bernstein in dieser bewegenden Lopreisung der Liebe erkannte.
V. Molto ritenuto – Allegro molto vivace: Das philosophische Gewicht von Sokrates’ Rede erhält in einer ausführlichen und vergleichsweise komplexen langsamen Einleitung angemessenen Ausdruck, worauf das urplötzliche Auftauchen Alkibiades’ den Schluss in ein jazzig inspiriertes musikalisches Freudenfest stürzt.
Über die literarischen Anspielungen hinaus verklammert Bernstein die einzelnen Sätze auch thematisch, indem er sie auf dem musikalischen Material des jeweils voran gegangenen Satzes aufbauen lässt. Sokrates’ Reflexionen (V.) beispielsweise erscheinen somit wie eine verwandelte Reprise des Agathon-Liedes (IV.): Der Hymnus wird also der analytischen Reflexion unterzogen – an einem klassischen Stoff par excellence ist zu erleben, wie Musik zur Philosophie werden kann.
©Michael Eidenbenz