Carmen Suite

Georges Bizet
Dauer: 10'

37jährig war Georges Bizet, als ihm sein grösster Wurf gelang: Carmen ist heute die meistaufgeführte Oper der Geschichte geworden. Auf den nachmaligen Erfolg deutete allerdings vorerst nichts hin. Bizet – mit richtigem Namen Alexandre César Léopold – hatte zwar schon als 19jähriger den renommierten Rom-Preis für französische Komponisten gewonnen, sein späteres Wirken als privater Musiklehrer, Korrepetitor und Bühnenkomponist verlief aber still und ohne grossen Glamour der Musikwelt. Opern wie Les pêcheurs de perles oder La jolie fille de Perth ernteten höchstens bescheidenen Publikumszuspruch, Djamileh fiel 1872 durch, und Don Rodrigue konnte wegen des Brandes der Pariser Oper schon gar nicht aufgeführt werden. Selbst die Bühnenmusik L’Arlésienne gewann ihre heutige Popularität erst lange nach seinem Tod. Zwar war Bizet dank einer günstigen Heirat immerhin von materiellen Sorgen befreit, doch seine künstlerische Karriere blieb vom Pech verfolgt, zudem litt er an Rheuma und an einer Herzkrankheit. Bloss als weiteres Glied in der Reihe der Misserfolge muss es Bizet daher erschienen sein, dass schliesslich 1875 auch die Uraufführung von Carmen unter einem unglücklichen Stern stand. Die Dramatisierung einer Novelle von Prosper Merimée wurde von den französischen Moralwächtern – allen voran vom Direktor der Pariser Opéra comique – als unsittlich beurteilt und zensiert, das Publikum reagierte mit Gleichgültigkeit, die Kritiken waren miserabel. Im Juni 1875 starb Bizet, im Herbst des gleichen Jahres erfolgte die erste Carmen-Aufführung in Wien, in deutscher Sprache und mit komponierten Rezitativen von Ernest Guiraud anstelle der ursprünglich gesprochenen Texte. – Und nun jubelte das Publikum! Es war nicht nur die explosive Mischung von Erotik, Folklore und dramatischer Tragik, was die Zuschauer augenblicklich elektrisierte. Darüber hinaus wurde das Werk mit seiner kunstvollen Natürlichkeit und seiner glutvollen Lebensintensität auch als Gegenpol zur französischen Fin-de-siècle-Sentimentalität und zur bombastischen Mythologie Richard Wagners erkannt. Friedrich Nietzsche gehörte zu den ersten glühenden Bewunderern der südlichen Vitalität der Carmen: «Keine Senta-Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatalität, zynisch, unschuldig, grausam – und darin Natur!» 

Seither sind Generationen von Opernfreunden der unwiderstehlichen Kraft verfallen, die von dieser Musik ausgeht. Und selbst wenn schon manche Inszenierung Einfachheit mit Trivialität verwechselt hat, selbst wenn Carmens Popularität oft zur Verkitschung verführt hat, selbst wenn sich mancher zeitgenössischer Regisseur mit entstellender Verfremdungslust an dem Werk ausgetobt hat: Der innerste Kern bleibt unantastbar als musikalischer Ausdruck echten und aufrichtigen Lebens. Jenes Lebens, das in der Ouvertüre mit aufschiessendem Temperament in die Welt tritt und im Finale mit derselben südlichen Hitze die unvermeidliche Nähe zum tragischen Tod findet.

©Michael Eidenbenz

 



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