Nussknacker: Suite Nr. 1, Op. 71a

Peter I. Tschaikowski
Dauer: 24'
I. Overture miniature,
II. Danses caracteristiques,
(a) Marche,
(b) Danse de la fee-dragee,
(c) Danse russe trepak,
(d) Danse arabe,
(e) Danse chinoise,
(f) Danse des mirlitons,
Ill. Valse des fleurs

Zuckerfeenträume – Peter Illitsch Tschaikowskys Nussknacker-Suite


Puppen, Zinnsoldaten, Stofftiere führen seit je ihr Eigenleben in den Zimmern der Kinder. Dass Gegenstände lebendig werden, ist ihnen alltägliche und selbstverständliche Erfahrung. Und «lebendig» meint eben das echte, ganze Leben – und das ist nicht immer nur idyllisch. In unerreichter Weise hat etwa Maurice Ravel mit L'enfant et les sortilèges solch kindlichem Träumen eine musikalische Stimme gegeben. Ein anderer, der sich auskannte mit der Ambivalenz von Fantasien, die Tröstliches und Unheimliches gleichzeitig erwecken, wenn die Dinge sich einzumischen beginnen, war E.T.A. Hoffmann. Beim Frühromantiker verwischen sich die Grenzen zwischen Fantastischem und Realität, der süsse Traum kann unversehens in den Irrsinn kippen, und die Puppe Olympia, die eben noch so lebensecht getanzt hat, zerbricht unter den Fingern... Selbst in Hoffmanns Weihnachtsmärchen Nussknacker und Mausekönig geht es nicht ganz harmlos zu und her. Immerhin tobt in der Nacht plötzlich eine Schlacht zwischen einer vom Mausekönig angeführten Kompanie Soldaten und dem Nussknacker, den die kleine Klara von ihrem Lieblingsonkel Drosselmeyer zu Weihnachten geschenkt gekriegt hat. Natürlich aber geht die Geschichte gut aus: Klara wirft kurzerhand ihren Pantoffel auf den Mausekönig und rettet damit ihrem Nussknacker den Sieg, der sich darauf in einen Prinzen verwandelt und das Mädchen ins Reich der Zuckerfee führt...

Auch für Piotr Tschaikowsky sind die Figuren der Geschichte zeitweise zum Alptraum geworden. Jedenfalls beklagte er sich darüber, dass sie ihn sogar nachts verfolgen würden, und beschwerte sich über die «gänzliche Unmöglichkeit, die Zuckermandel-Feerie in Töne zu malen». Tatsächlich hatte er dem grossen Choreographen Marius Petipa die Szenen von Hoffmanns Märchen taktgenau für dessen hervorragende Ballettcompagnie am St. Petersburger Mariinsky-Theater auf die Füsse zu schreiben. Petipa hatte das Libretto selber verfasst, seine Wünsche waren detailliert und fordernd, Tschaikowskys letztes Bühnenwerk wurde zu einer Arbeit, bei der die pflichtschuldige Erfüllung exakter Anforderungen vor der freien künstlerischen Inspiration zu stehen kam. Doch Tschaikowskys Treffsicherheit war zweifellos erfolgreich. Die Uraufführung des Balletts – 1892 in St. Petersburg – hatte zwar mit achtzehn Vorstellungen eine vergleichsweise kleine Resonanz. Spätestens von der Ballett-Suite lässt sich jedoch wie von kaum einem zweiten Werk der Musikgeschichte sagen, dass es den Nerv weihnachtlich gestimmter Gemüter getroffen hat. Wie der Geruch von Süssigkeiten, wie die Atmosphäre von Erwartung und kindlicher Freude, wie freundliche Lichter klingen, ist für Generationen von Zuhörern unausweichlich mit dem Nussknacker verbunden. Und natürlich hat Tschaikowsky auch den Zuckerfeentanz, der ihm solche Sorgen bereitet hatte, tadellos gemeistert: Die Celesta, das damals eben neu erfundene Glöckcheninstrument, half ihm, den nötigen süssen Puder zu streuen.

©Michael Eidenbenz 



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