Bei der "Neunten" handelt es sich zum Teil um die Vertonung eines Gedichtes von Schiller, das dieser 1785 schrieb. Beethoven hat diese "Ode an die Freude" Zeit seines Lebens geliebt und schon in seiner Bonner Zeit geplant, sie zu vertonen. Korrespondenzen aus dem Jahr 1793 weisen darauf hin. Bis zur tatsächlichen Vollendung dauerte es dann aber gut 30 Jahre. Musikwissenschaftler und Autoren kommen zu unterschiedlichen Auffassungen, ob dieses Werk sozusagen 30 Jahre in Beethoven gereift ist, oder ob er schlicht und einfach eine alte Idee noch einmal aufgegriffen hat.
Lange Zeit hielt er seine neuen Werke zurück und verbesserte sie ständig. Und weil seine Musik während seiner letzten Lebensjahre im Ausland eine höhere Wertschätzung erfuhr als in Wien, kamen Gerüchte auf, die neue Sinfonie solle in Berlin aufgeführt werden. Daraufhin appellierten 30 Wiener Musiker und Musikliebhaber zur Jahreswende 1823/24 schriftlich an Beethoven, seine neuesten Kompositionen nicht länger unter Verschluss zu halten, sondern sie in Wien aufzuführen. Beethoven ließ sich davon überzeugen und stimmte jener Aufführung im Mai zu. Dieses Konzert - Beethoven war zu diesem Zeitpunkt schon völlig taub - war gleichzeitig sein letztes.
Vielleicht kann man eine Sinfonie damaliger Musiker mit einem Album heutiger Künstler vergleichen. Beethovens "9. Sinfonie" bringt es auf eine Spieldauer von über 70 Minuten. Sie besteht aus vier Teilen, die ähnlich wie bei einem Album mit mehreren Stücken sehr unterschiedlich ausfallen. Der 1. Satz hat eine Länge von zirka 18 Minuten. Er hat eigentlich keine direkt eingängige Melodie, sondern zeigt vielmehr, wie Beethoven alle Klangfarben und Register eines Orchesters kennt und mit ihnen spielt. Das Orchester wird laut und wieder leise, dann spielt es ganz sanft und steigert sich langsam wieder zu einem harten Klang. Ständig werden die Rhythmen gewechselt, eine Passage nach zirka acht Minuten erinnert beinahe an den Rhythmus einer Eisenbahn, die es aber zu Beethovens Zeit noch gar nicht gab.
Der 2. Satz ist mit etwa zwölf Minuten der kürzeste und stellt die Geigen in den Mittelpunkt. Es klingt, als würden sie sich unterhalten und sich dabei immer wieder in Schimpfkanonaden hineinsteigern. Der 3. Satz geht in seinen knapp 20 Minuten einen völlig anderen Weg. Das Orchester scheint zu schweben. Die Trommler haben Pause. Die Melodie besteht aus lang gezogenen Tönen, alle Klänge fließen in einander über.
Der 4. Satz ist mit seinen 25 Minuten der längste und vor allem der entscheidende Teil, der die "Neunte" weltberühmt machen sollte. Bis dahin ist die gesamte Sinfonie mehr ein Klangerlebnis, das alle Möglichkeiten eines Orchesters ausnutzt. Zu Beginn greift Beethoven noch einmal kurz drei Motive aus den ersten Sätzen auf, bricht damit aber schnell wieder ab. Und dann führt er die entscheidende Melodie ein. Die bekannte Tonfolge zu "Freude schöner Götterfunken" erklingt erst ganz leise und wird in ständig zunehmender Besetzung wiederholt.
Man muss bedenken, dass sich Musik nicht immer sofort beim ersten Hören erschließt. Zu Beethovens Zeit ohne Medien wie Platten oder CDs hatte das Publikum aber keine Möglichkeit des wiederholten Hörens. Insofern scheint es ein bewusster Trick des Komponisten gewesen zu sein, diese eingängige Melodie dermaßen oft zu wiederholen, so dass sie dem Hörer schnell vertraut wird. Und nach etwa sieben Minuten bringt Beethoven dann mit dem Gesang von Einzelstimmen und einem großen Chor eine neue weitere Klangfarbe in das Werk ein, das sich bis zum Ende zu einem gewaltigen Ganzen steigert.
Das wahrlich Erstaunliche ist, dass Beethoven ein solch komplexes Werk mit dermaßen vielen Klangfarben komponieren konnte, obwohl er zur Zeit der Entstehung schon völlig taub war. Und zudem soll er unter Tinnitus gelitten haben. Man sagt ihm nach, dass er in jungen Jahren ein exzellentes Gehör hatte und Töne sofort erkennen und aufschreiben konnte. Anders lässt es sich nicht erklären, dass er später die Musik, die er im Kopf hatte, so präzise notieren konnte.
Während der Uraufführung der "Neunten" soll er zwar anwesend gewesen sein, konnte aber nicht einmal den Applaus des Publikums wahrnehmen. Er soll mit dem Rücken zum Publikum gesessen haben, und erst eine Sängerin soll ihn dazu bewegt haben, sich umzudrehen und den Applaus des Publikums anzunehmen.
Die Uraufführung der "Neunten" soll unter vielen Spielfehlern gelitten haben, dennoch hat das Publikum enthusiastisch reagiert. Denn Beethoven erschloss, so schrieb es ein anwesender Kritiker, mit seiner Musik "eine neue Welt". Inwieweit die "Neunte" anders ausgefallen wäre, hätte Beethoven sie hören und womöglich nachträglich ändern können, bleibt reine Spekulation.
Das Werk ging um die ganze Welt und hat sich dabei als völlig zeitlos erwiesen. Aufführungen selbst in China oder Russland waren keine Seltenheit. Auch nutzten politische Regime in aller Welt die "Ode an die Freude" für ihre Schauveranstaltungen. Ob das im Sinne Beethovens gewesen wäre, ist zu bezweifeln. Versöhnlich würde ihn vermutlich stimmen, dass sein "Götterfunken" 1970 als Pop-Hit "A Song Of Joy" um die ganze Welt ging. Und dass die Instrumentalfassung seiner Ode seit 1985 die offizielle Hymne der Europäischen Union ist.
Beethoven war zu Lebzeiten davon überzeugt, dass seine Musik für die Nachwelt von Bedeutung sein würde. Dass seine "9. Sinfonie" einmal entscheidend für heutige Tonträger werden könnte, hätte aber seine Vorstellungskraft sicher überfordert. 1982 kam mit der CD der neue digitale Tonträger auf den Markt, der seitdem das führende Medium im Musikgeschäft ist. Bis zu 80 Minuten Speicherkapazität hat die CD. Und dass das so ist, verdanken wir Beethoven!
Während der Entwicklung des Tonträgers soll der Vizepräsident des entwickelnden Konzerns die Vorgabe gemacht haben, dass der neue Tonträger es ermöglichen müsse, Beethovens "Neunte" am Stück zu hören. Die Ingenieure orientierten sich dann an der Aufnahme von Wilhelm Furtwängler von 1951, die es auf 74 Minuten bringt. Somit beeinflusste letztlich Beethoven Größe und Format der CD.
Helmut Brasse, Stand vom 26.08.2014
Quelle: planet-wissen.de